„Wirste emotional?“ fragte mich Oliver Kreuzer. Der einstige Fußballprofi und jetzige KSC-Sportdirektor drehte, sich feiertags sportlich betätigend, seine Runden, während ich, mit Kamera und Weitwinkelobjektiv bewaffnet, versuchte, dreißig Jahre auf eine Speicherkarte zu packen. „Ja.“ Ja, werde ich.

Abschiedstränen beimnackten Mann

Beim nackten Mann* verdrückte ich ein paar Abschiedstränchen, auch wenn noch ein letztes Spiel anstand. Tränen, weil das altehrwürdige Wildparkstadion nach 63 Jahren das Zeitliche segnen und an selber Stelle eine neue Arena entstehen wird. Weil am heutigen 5. November 2018 endlich, endlich, endlich der viel zitierte erste Bagger im Wildpark angerollt ist.

Weil ich am 5. November 1988 mein erstes Spiel live im Wildparkstadion gesehen habe; das ist auf den Tag genau verdammte 30 (DREISSIG) Jahre her. Weil Valencia und das Wunder vom Wildpark am 2. November auch ein Jubiläum gefeiert haben; das wiederum ist 25 Jahre her und lässt mich auch nicht sehr viel jünger fühlen.

Tausche Tschüs mit Tränen gegen Geld und Gespött

Gefühle. Um die geht’s. Nur um sie. Nicht um Argumente, pro oder contra, nicht um „Waaaas, ein Drittligist, was brauchen die ein Stadion?“, nicht um sarkastisches „wiiiiie, schon nach so wenigen Jahren?“, nicht um Geld, nicht um Gespött.

Ich wollte mich von einem uralten, verrosteten, vermosten, versifften, baufälligen Stadion verabschieden, das noch eine Holztribüne sein eigen nennt und irgendwann mal das modernste seiner Zeit war; zumindest seine Flutlichtmasten und seine Videoleinwand waren das.

Zack, schon bald Geschichte. Ach, Wildpark, Dich gibt's nicht noch mal.

Abschied unter derAnzeigetafel

Wie ich da feiertags also meine Runde drehte, so ganz für mich in diesem weiten Stadionrund, da packte mich das an. Wie ich da so stand, schräg unter der Anzeigetafel, auf die Haupttribüne blickte mit ihren Monsterkrallen, auf die Gegengerade mit ihren Holzsitzen, ihren staubigen Stehrängen, da schauderte mich. Auf dem Rasen habe ich schon Aufstiege gefeiert und Nichtabstiege beseufzt, habe auf den Rängen Relegationen ertragen, das Pokalendspiel erreicht, ein 7:0 erlebt und noch eins, im Nebel die Tore nicht gesehen und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und geschrien, viel geschrien.

Ich stand bei über 30 Grad im Fanblock, lange bevor es eine Singing Area gab, und lechzte nach Wasser oder dem kalten Bier aus der Werbung, dabei mag ich Bier nicht mal sonderlich. Nicht mehr. Vielleicht liegt’s an zu vielen Auswärtsfahrten. Eine davon ist schuld, dass ich lange Zeit einen Bogen um Joghurt machte, und dabei fällt mir auf: Die Joghurt-Antipathie hat auch einen Runden. 1998 war’s, nach dem Abstieg in Rostock, die längste Zugfahrt der Geschichte, mit der größten Menge Frei-Joghurt der Geschichte. Manchmal habe ich das Gefühl, wir fahren und löffeln immer noch. Und doch ist auch das 20 Jahre her.

Löffel gab’s keine im Wildpark, auch keine Schale, zumindest nicht die in Liga eins. Dafür durfte ich viele Spiele in selbiger Spielklasse erleben, durfte dabei sein, wie Oliver Kahn zwischen den Pfosten zum Titan emporwuchs, wie Euro-Eddy die Arme in die Höhe reckte, wie Kiki alle ausdribbelte, und da waren ja auch Magic und Eggi, Iron und der Lange, und kennen Sie noch Dirk Klinge oder Lars Schmidt? Ewig könnte ich so weitermachen, aber Sie kämen mir vermutlich gelangweilt abhanden. Zurück also zum Abschied.

Ein letztes Winken

Vergangenen Donnerstag habe ich dem Wildparkstadion gewunken. Ganz still, versteckt, für mich. Ohne Massen auf den Rängen, ohne Musik aus den Lautsprechern, ohne großes Pompom und Trara, aber mit großen Gefühlen. Ich hatte nicht erwartet, dass es mich so schuckt. Dabei ist die Zeit, in der Fußball im Allgemeinen und der Karlsruher Sport-Club im Speziellen über meine Laune, Wohl und Wehe entschied, lange her. Die Jahre, in denen ich als Fan mit Schals und Trikot, Mütze und allem, was der blau-weiße Schrank so hergab, ins Stadion pilgerte – eine gefühlte Ewigkeit vorbei. Ich als Kartenabreißer am Eingang Fasanengarten und hernach als Ordner im neongelben Leibchen im Block – in einem anderen Leben. In 30 Jahre passt so einiges.

Zum Beispiel ein Sieg gegen den 1. FC Kaiserslautern am 05.11.1988. 4:1, damals nahe an der Sensation, und Papa mit klein Sandra: nahe an den Gästefans. Zu nahe. Gab nur noch Karten für den Gästeblock, und wir zwei mittendrin. Damals ging das noch, sogar torjubelnd. Die Vorgeschichte dazu ist schnell erzählt. Papa verließ regelmäßig samstags das Haus, was mir a) nicht passte und mich b) neugierig machte. Wohin er denn gehe? Zum Fußball also, aha aha. Elfjährig durfte ich ihn schließlich, an jenem schicksalhaften Novembertag, zum ersten Mal begleiten. „Danke Papa, dass Du mich damals mit den Wildpark genommen hast“ steht sogar auf einem Schal, den ich ihm mal schenkte. Dem Schal, den er beim Abschiedsspiel am Samstag getragen hat. Seit damals folgten unzählige gemeinsame Besuche (und noch viele weitere, bitte), aber dieser erste und dieser letzte, die bleiben besonders.

Die Karte von 1988 habe ich nicht mehr, aber die Erinnerung. Ans Stadionheft, das er mir kaufte, des besonderen Ausflugs wegen (leider ebenfalls nicht mehr vorhanden), und hätte ich damals auch nur geahnt, dass ich die Geschichten darin einmal selbst schreiben würde, ich hätte wohl ungläubig mit großen Augen geguckt.

"Immer geradeaus."

— Papa, auf meine Frage nach dem Weg ins Stadion

Mit jenen großen Augen schaute ich stattdessen aufs Geschehen, aufs Spielfeld, auf das, was meinen Papa so magnetisch anzog. Und ich erlag. Wohl für immer, obwohl ich mit solch großen Worten vorsichtig bin, aber doch, es müsste schon Einschneidendes passieren, das mich von diesem Verein trennen könnte. Nun war ich elf und noch nicht ganz in einem Alter, allein zum Fußball zu gehen. Das änderte sich 1993. Zur Winterpause: die erste Dauerkarte, ein Weihnachtsgeschenk. Bestes Geschenk.

Seitdem habe ich nicht sehr viele Spiele verpasst in diesem Stadion, das mir wie ein zweites Wohnzimmer geworden ist. Ich habe dort schon Afrikanern auf Englisch den Weg zum Block erklärt, habe Stadionhefte verkauft (lange, bevor ich zur Autorin derselben geworden bin), habe jede Menge Bier abgekriegt und mit Gesten angefeuert, die mir unbekannt waren und heute peinlich sind. Naiv, ja, das war ich wohl, aber eben auch begeistert.

Valenciaund Westentasche

Der Montagmorgen am Frühstückstisch zu Hause bestand aus Analysen des Spiels (und der restlichen Spiele) zwischen Papa und mir. Der Freitag, manchmal auch schon der Donnerstag: gefüllt mit Spekulationen ob der kommenden Aufstellung und der gegnerischen Taktik. Meine Reise durchs Stadion ging weiter, von Gäste- zu Fanblock, damals schlicht „D“, während europäischer Auftritte in A4, als Ordner in A2, als Schreiberling auf der Haupttribüne.

Da sitze ich bis heute, da saß ich am Samstag. Ich weiß, dass mit diesem ersten Bagger nicht alles auf einmal abgerissen wird, natürlich nicht. Bis ich meinen Platz räumen muss, wird wohl noch einige Zeit vergehen, und doch: Am Samstag war mein letztes Spiel im Wildparkstadion, wie es mir zur Westentasche geworden ist.

Das ist nicht möglich, es ist unfassbar, unglaublich, ich raff's nicht, ich werd wahnsinnig hier!

– Jörg Dahlmann

Und dachte ich Donnerstag noch, es könnte nicht emotionaler kommen? Es konnte. Oh, wie es konnte. Die Spieler von einst, Helden vor meiner Zeit, aus „meiner Zeit“, Schütte und Ebse und Eddy, Helden von 2006, Eggi und Iashi, natürlich auch Sabine Witwer, alles noch irgendwie auszuhalten. Und dann Pyro ringsum. Mit dem Zünden dieser bengalischen Feuer, die den Wildpark noch einmal haben brennen lassen, war es vorbei mit mir und meiner Haltung. Gänsehaut und Tränen. Was für ein Abschied.

Leider habe ich keine Ahnungvon Fußball

Das meine ich ernst. Spieler X auf der Sechs, Spieler Y nach innen, der zweite Sechser, Spielsysteme, 4-4-2, du liebe Zeit. Ich habe keinen sehr hellen Schimmer davon, nur eine ungefähre Vorstellung. Kann’s nicht erklären, Spiele nicht taktisch lesen. (Das heißt übrigens nicht, dass das an meinem Geschlecht liegt. Es gibt unzählige Frauen, die sehr wohl sehr viel Ahnung von Fußball haben, egal, was verstaubte einstellungsüberholte Menschen meinen.) (Und ja, ich weiß, was Abseits ist. So schlimm steht’s dann doch nicht.)

Bei mir ist das mit dem Fußballgucken ein bisschen wie echtes Lesen. Wenn ich Bücher lese, funktioniert das bei mir anders als bei vielen anderen. Ich sehe keine Bilder vor dem inneren Auge, kann nicht beschreiben, wie die Charaktere für mich aussehen. Ich … hm. Fühle sie mehr als dass ich sie sehe. Und so ist es auch im Fußball. Ich fühle Spiele. Oft sogar, bevor die Spieler sie fühlen. Spüre, wie es wohl ausgeht, weil ich Bewegungen abseits des Balls, Körperhaltungen, hängende Köpfe oder mitreißende Gesten sehe. Nicht nur die großen, auch die kleinen.

Schon eigenartig, das mit dem Fußball und mir. Eine seltsame, aber sehr vertraute verrückte feste Beziehung. So fest, dass ich einen Fußball tätowiert auf dem Arm trage. Aus Liebe zu diesem einfachen, manchmal verrückten, oft vertrackten, kommerziellen, traditionellen, viel zu teuer gewordenen, abgehobenen, wunderbar herrlichen Sport.

Selbst aktiv am Ball war ich auch, etwa zehn Jahre lang. Am erfolgreichsten im Luftduell. Mit zunehmender Trainingsabwesenheit verlor sich das nach und nach. Dabei habe ich gar nicht beschlossen, aufzuhören mit dem Fußball. Irgendwie hörte der aktive Fußball mit mir auf.

Altes Haus, Du bleibst für immer

im Herzen, in Erinnerung

Fürchterlicher faszinierenderfurioser Fußball

Passiv bin ich aber dabei geblieben, qed. Und ausgerechnet am Samstag nach dem Abschiedsspiel traf ich, nach Jahren, zwei ehemalige Mitspielerinnen, Freundinnen, KSC-Dazugehörende seit immer; ausgerechnet. Da wollte jemand den perfekten Stadionsamstag choreografieren und hat ihn mit diesem Treffen abgerundet.

Schon oft wurde ich gefragt, was mich am Fußball so fasziniert. Warum ich beim Zappen fast immer hängen bleibe, wenn irgendwo ein Spiel übertragen wird, völlig egal, welches Land, welche Liga, welcher Club. Ich kann’s Ihnen nicht so genau sagen. Hat wieder was mit oben zitiertem Gefühl zu tun. Fußball packt mich. Ich weiß, Basketball zum Beispiel, den ich auch eine Zeit lang intensiv live verfolgt habe, packt viel mehr. Da gibt’s keine lahmen Unentschieden, da gibt’s Buzzer Beater und Overtimes, da ist was los, ich sag’s Ihnen. Und doch, Fußball. Immer wieder Fußball. Da gibt es die Last-Minute-Tore, die Aufholjagden, die irren Dinger, und vielleicht ist Fußball grade wegen seiner Nullzunulls und seiner manchmal nur schwer auszuhaltenden Langatmigkeit dann eben doch auch wieder was Besonderes. Der Deutschen liebste Sportart, besonders? Naja: ja. Nicht von außen, nicht von oben. Aber ganz tief drin. Wenn man genau hinschaut und fühlt, schreibt Fußball verrückte Geschichten.

Heiliger Rasen (Betreten verboten)

— zumindest für Normalsterbliche

Und ich? Schrieb ein Buch über den KSC. Schreibe 15 dieser 30 Jahre für Wildpark live, das Stadionheft. Die Hälfte meiner KSC-Zeit, irre. Und gern auch mal anders als „typisch Fußball“, weil kreative Texte und Konzepte nun mal mein Ding sind. Als Fan mit 15 war es das Größte für mich, nach dem Spiel eine Hand der Spieler zu erwischen, beim Abklatschen am Zaun. Heute bin ich mit ihnen per du, durfte mit ihnen kochen und auf dem Hockenheimring driften, Kaffee trinken und zu Mittag essen, telefonieren und über Hunde fachsimpeln, und wissen Sie was? Das ist etwas, für das ich dankbarer bin, als ich es jemals werde ausdrücken können.

Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass ich mit Edgar Schmitt mal das vergangene Spiel analysiere, er, der damals gegen Valencia Tor um Tor schoss. Dass sich Markus Kauczinski mit mir über Brillen unterhält oder Jörg Dahlmann über, genau, Valencia. Privilegiert bin ich, und ich weiß das. Niemals werde ich diese wunderbare Arbeit und alles, was sie mit sich bringt, für selbstverständlich erachten.

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Wildpark, zweitesWohnzimmer

30 Jahre hatte ich Zeit, das Wildparkstadion zu fotografieren. Vergangenen Donnerstag habe ich das getan. Alles draufgekriegt? Nein, alles lässt sich nicht festhalten. Auch das Wildparkstadion nicht. Es fällt uns unterm Hintern zusammen, da ist was dran am loslassen Können und gehenlassen Müssen.

Auf den Tag genau 30 Jahre nach meinem ersten Spiel im Wildparkstadion beginnt also am heutigen 5. November 2018 der Abriss. Was für ein Zufall, zu kitschig, um sich das auszudenken. Fehlte nur noch, dass die Partie am Samstag nicht gegen Würzburg, sondern gegen Kaiserslautern gewesen wäre. Aber nein, zu viel des Emotionalen. Es hat mich auch so die Fassung gekostet.

Ich bin froh, dass ich Zeit für meinen ganz persönlichen, leisen, kleinen feinen Abschied hatte, und dafür, dass ich am Samstag mit so vielen alten Bekannten und Leidensgenossen den Abschied laut und leuchtend und ganz groß feiern durfte. Wundervolles Wildparkstadion: Ich war gern in Dir. Danke für alles.

*Moment, wie war das? Nackter Mann? Insider wissen, wer damit gemeint ist. Allen anderen empfehle ich diese Lektüre.

Mach's gut, geliebte Bruchbude.

Zu lang? In kurz:

Danke, Wildparkstadion. Mein kleiner leiser Abschied und mein Jubiläum, der große laute Abschied und ein paar Tränen: Ich erinnere mich an Valencia, an mehr als eine Relegationskatastrophe, Abstiege, Aufstiege und daran, was ich in 30 Jahren KSC erlebt habe. Und ich winke dem Wildpark, denn die ersten Bagger rollen an und reißen mein zweites Wohnzimmer ab. (Zeit, emotional zu werden.)